Vorbemerkung

Der Weg der Witwe des Künstlers mit dem Nachlass des "Meisters" von Dresden über Nordrhein-Westfalen bis nach Fritzlar ist ein eigenes Abenteuer, über das sich die Kulturhistorikerin Frau Dr. Ruth Stummann-Bowert gegen Ende der 1980er Jahre in ihrer Broschüre "Ein Leben für Richard Wagner" im Auftrage der Stiftung Museum Fritzlar ausführlich geäußert hat. Die Übernahme des erhaltenen Oevres durch ein Regionalmuseum in Nordhessen ist nur unter Berück-sichtigung der damaligen Verhältnisse in der "Vorwendezeit" und den generationenübergreifenden Verbindungen zwi-schen Lehrer und Angehörigen seines ehemaligen Meisterschülers Hans Otto (1900-1960) an der Christopherus-Schule in Oberurff einigermaßen verständlich. Dazu trat die geographische Herkunft einiger Aktiver im Museum, die der Kriegs-generation angehörten, und einem bewussten Bildungsbürgertum, das auch in der Person des damaligen Bürgermeisters und Stiftungsvorsitzenden Reinhold Koch seinen Niederschlag fand. Dabei mag auch die nahe Aura der zeitgenössischen "Hochschule für bildende Künste" in Kassel (HBK) eine gewisse Rolle gespielt haben.

Biographie

30. Der Wanderer, Selbstbildnis des Meisters (Neufassung eines schon einmal um 1922 enstandenen Bildes)

Neueröffnung der Galerien Richard Guhr/Hans Otto
im Regionalmuseum Fritzlar am 29.11.1987
- Einführung in das Werk von Richard Guhr – 

Rede anläßlich des Festaktes: Dr. Ruth Stummann-Bowert

Der 29. November 1987 ist ein besonderer Tag. Vor einem Jahr ging Frau Hedwig Guhr - sie ist seit einem Jahr nicht mehr da - so würde man in Afrika über die Tote sprechen und heute, am ersten Jahrestag des Todes, ein Freudenfest feiern, weil nun die Hinweggegangene sich ganz verwan­delt und ihren Wächter­platz in der Nähe des Ortes gefunden hat, der seelisch und gei­stig das Handlungszentrum der Lebenden war.

        Warum knüpfe ich an dennoch heute lebendigen Ahnen- und To­tenkult an: um an eine Frau zu erinnern, der die Stiftung Mu­seum Fritzlar und die Fritzlarer Bürger diesen Ausstellungs­raum und alle Bilder zu danken haben. Sie hatte bereits mit einer ersten Schenkung von Bildern und finanziellen Zuwendungen ihre Hüterfunktion erfüllen wollen und hat mit der Erblassung aller in ihrem Besitz befindlichen Bilder sowie Schriftstücken und finanziellen Mitteln das Lebenswerk Richard Guhrs sicht­bar machen wollen. Seitdem nun im März dieses Jahres der Nachlaß zugänglich wurde, sind durch Restaurierung einer Vielzahl von Bildern, durch Neuordnung des Bildbestandes und eine in Kürze erscheinende Einführung in das Werk An­strengungen unternommen worden, den Auftrag Hedwig Guhrs zu erfüllen.

      Sie wurde als Hedwig Koch 1893 in Hagen geboren und wurde 93 Jahre und 6 Monate alt. Sie überlebte Richard Guhr um ge­nau 30 J ahre und einige Wochen. Richard Guhr starb am 27. Ok­tober 1956.

Sie hatte schon ein Leben gelebt, als sie 1939 46jährig und gera­de einige Monate verwitwet, dem damals 66jährigen Richard Guhr in Schloß Albrechts­berg bei Dresden begegnet, weil sie die fürstlichen Räume betrat, die der Oberbürgermeister der Stadt Dresden für die Bilder der Wagner - Ehrung zur Verfügung ge­stellt hatte. Hedwig Guhr war ausgebildete Konzertsängerin und hatte den Kapellmeister Rudolf Bing geheiratet, über des­sen Wirken sie mit der Musik Richard Wagners vertraut war.

      Ihr Großvater mütterlicherseits hatte mit seinen Söhnen eine Kunstwerkstatt für dekorative Malerei, Porträtieren und Gold­arbeiten ge­führt. Als Kind saß sie oft bei dem einzig noch leben­den Onkel und sah ihm beim Malen und Restaurieren zu. So war ihr von Kunst geprägter Erfahrungshintergrund dazu angetan, in einem Augenblick als sie,früh ver­witwet, nicht wußte, welche Richtung sie nun ihrem Leben geben sollte, die Begegnung mit Richard Guhr im Jahre 1939 zum Schlüssel­erlebnis werden zu lassen. Sie schreibt in hinterlassenen autobio­gra­phischen Auf­zeichnungen offen darüber, daß ihre Verwandten sie wieder ver­heiraten und mithin ihre bürgerliche Existenz sichern wollten. Aber sie geht einen anderen Weg. 

      Nach anderthalb Jahren kurzer, offenbar mehr aus Notizen be­stehender Korrespondenz und gelegentlichem Erscheinen in Albrechts­berg zieht sie in einen abgetrennten Teil der großen Wohnung Richard Guhrs und wird fortan - seine Dienerin.

      Den Begriff führt er selbst ein. Hedwig Guhr erinnert sich: Ich sagte: „Nächsten Sonntag komme ich wieder in die Wagner-Eh­rung, dann erst kann ich Ihnen sagen, ob ich Ihnen helfen kann. Eine kurze Antwort vom Meister, nicht nur helfen - dienen, die­nen, dienen, heißt es im Parsifal.“

      Sie wird seine Haushälterin, seine Gesellschafterin, indem sie ihm vorsingt, seine Assistentin, wenn sie bei Führungen in Schloß Albrechtsberg Bilder erklärt; sie begleitet Guhr aus dem brennenden Dresden und drapiert im Forsthaus Höckendorf, wo beide für Guhrs letztes Lebensjahrzehnt eine Bleibe, finden, Stoffe auf Holzpuppen, als er nochmals zu malen beginnt. Dort, im Forsthaus, entstehen übrigens auch die Ansichten von Höckendorf und die Bildnisse, die Guhrs Prä­zision der Reali­tätserfassung und die Beherrschung aller maltech­nischen Mit­tel erkennen lassen. Anfang Januar 1947 heiratet Richard Guhr Hedwig Bing.

      Wer ist der Mensch, der Künstler, der - wie es uns scheinen mag - mit herrischer Geste eine Frau nur in der untergeordneten Rol­le der Dienerin in seiner Nähe duldet. Richard Guhr, den die Dresdner Fremdenver­kehrs­werbung als Schöpfer der Turmfi­gur auf dem Rathaus, dem anerkannten Wahrzeichen Dresdens nennt, und der in Monographien über den Maler Otto Dix in ei­ner Fußnote als einflußreicher Lehrer von Dix abgehandelt wird.

      Er wird 1873 in Schwerin geboren, der Residenzstadt des Groß­her­zogtums Mecklenburg - Schwerin. Der Vater ist Kammer­musiker und gehört mithin als Künstler dem sozialen Stand des Bildungsbürgertums an, das mit dem Besitzbürgertum nicht identisch ist. Die Söhne Richard und Alfred steigen relativ in diesem Stand des Bildungs­-bürgertums noch auf. Richards Künstlerkarriere ist erfolgreich, und er krönt sie mit.dem Pro­fessorentitel. Der jüngere Bruder wird Beamter, dann Maler und fällt im er­sten Weltkrieg.

      In der Residenzstadt Schwerin leistet Richard Guhr nach höhe­rer Schulbildung den Militärdienst ab und ist Leutnant der Re­serve. Auch dies gehört zum sozialen Stand. Folgt man einem der wenigen erhaltenen Berichte über den jungen Guhr, so war er durchaus schneidig in seinem ganzen Auftreten: Akademi­ker, Künstler, Offizier. Von Schwerin aus begibt er sich vermut­lich zunächst nach Berlin - auch einer Residenz­stadt. Er erlebt dort in den Formen des großstädtischen Lebens die Bevölke­rungsexplosion, die in Deutschland zwischen 1890 und 1913 um 36% betrug. Berlin ist nicht mehr nur preußische Residenz­stadt, sondern Hauptstadt des Kaiserreichs. Das Studium an den Kunstge­wer­beschulen Dresden - der dritten von Guhr ge­wählten Residenzstadt ist nicht zufällig. Die Kunstgewerbe­-schulen sind Hauptstützen bei der Umsetzung künstlerischer Ideen in dem weiten Bereich der ange­wandten Künste, von de­nen Landesfürsten und der Kaiser die prunkvoll reprä­sentative Umkleidung ihrer Herrschaft erwarten. Wandmalerei und an­gewandte Bildhauerei sollen die neuen kommunalen Großbau­ten - Rathäuser, Banken, Warenhäuser mit den Formen schmücken, die in Vorbildersammlungen die europäische und ägyptische Kunst verfügbar halten. Guhr verdingt sich zu­nächst als Dekorationsgeselle und steigt so in den Konkurrenz­kampf um Aufträge angewandter Kunst ein.

      So ist er, vermutlich noch als angestellter Dekorateur, bei der Ausmalung des Kaiserkellers in Berlin, einem Weinlokal mit Fresken aus dem Leben der Hohenzollern, beteiligt. Da er weiß, daß Geld nicht alles ist, mußte er sich einen Namen als Künstler erwerben. Dies geschieht auf den großen Berliner Kunstaus­stellungen nach 1900, die Kunst- und Kunstgewerbe zu großen Messeschauen vereinigen. Er hat Erfolg. 1904 beruft ihn das In­nenministerium in den künstlerischen Beirat für die Weltaus­stellung in St. Louis. Jetzt trifft er namhafte Architekten und Künstler. Er erhält für seine Verdienste um die Ausgestaltung der deut­schen kunstgewerblichen Abteilungen in St. Louis eine goldene Medaille. Jetzt fehlen zur Sicherung seiner beruflichen und gesellschaftlichen Position nur noch zwei Dinge, die Profes­sur an einer einflußreichen aka­de­mischen Institution und - die Ehe. Das erste gelingt. Er erhält eine Pro­fes­sur an der Dresdner Kunstgewerbeschule für das Fach Figuren­zeichnen und bei der Ausschreibung für den Bau eines neuen Dresdner Rathauses den Zuschlag für 11 Gesimsfiguren der Vorderfront und für eine Turmfigur. Das war 1906. Dresden war nicht irgendeine Stadt. Als Königsstadt Sachsens lag sie in Konkurrenz mit der Stadt des preußi­schen Erbfeinds.

      Der Kampf um den Führungsanspruch spiegelte sich auch dar­in, daß die dritte deutsche Kunstgewerbeausstellung 1906 in Dresden stattfand und auch hierbei Guhr erfolgreich teilnahm. Zur Vervollständigung des sozialen Standes des Bildungsbür­gers fehlte eins - die Ehe. Ohne Ehe kein Stammtisch, und dieser war entschei­dend für das gesellschaftliche Prestige.

      Hedwig Guhr berichtet von einer Verlobung, die durch Untreue der Braut aufgelöst worden sei und der Schlußfolgerung, die Guhr durch Ab­wen­dung von den Frauen daraufhin gezogen ha­be. Das mag so sein, es kann auch anders gewesen sein. Aus den Selbstzeugnissen, die bei der Haushaltsauflösung im Frühjahr - bei der Stadt und Stiftung ausge­schlos­sen wurden - erhalten blieben, einem einfachen schwarzen Heft mit Eintragungen von der Hand Richard Guhrs, geht hervor, daß dieser um 1906, also auf der Höhe seines künstlerischen und gesellschaftli­chen Erfol­ges, erkannte, daß er nicht heiraten würde. Die Frau erschien ihm als das ganz andere Prinzip mit dem Doppelgesicht einer Heili­gen und einer Zerstörerin. Von tiefen Depressionen und Erkran­kungen auf psychosoma­tischer Basis geplagt, beschließt er, „sein Kreuz auf sich zu nehmen“. Er stürzt sich in das Studium philosophischer und soge­nannter schwerer Literatur - deutsche Klassiker, Bibel, Nietzsche, Schopenhauer, die Schriften Wag­ners und dies besonders während einer 40tägigen Fasten­zeit um Ostern, die er von nun an, zunächst unter ärztlicher Aufsicht, bis zu seinem Tode einhält.

      Diese Lektüre, die dem jungen Professor und Leutnant zu­nächst er­heb­liche Schwierigkeiten bereitet, wird die spätere Grundlage für die Bilder, die in den Jahren 1912 bis 1922 entste­hen. Um diesen Kern von Bildern, die er erst sehr viel später, nämlich zum Zeitpunkt der Unter­bringung in Schloß Al­brechtsberg, zur Wagner-Ehrung zusammenfaßt, reichert er in den Jahren 1922 bis 1934 weitere an.

      Zwei Fragen gilt es zur Verständnis der Künstler - Persönlich­keit Guhrs zu beantworten. Dies ist auch wichtig zum Verständ­nis des Stellen­werts, den diese Bilder rückblickend für ein gan­zes Zeitalter haben.

      Warum die Beschäftigung mit Schopenhauer, Nietzsche, Wag­ner der Bibel Schopenhauers philosophisches Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ beruht, vereinfacht, auf der The­se, daß nur durch die Über­windung des Willens, der als Lebens­- und Fortpflanzungstrieb verstanden wird, der Mensch sich aus dem ungeheuren Leidensdruck am Leben be­freien, gleichsam aus dem Kreislauf des kreatürlichen Existierens ausbrechen und zur höheren geistigen Erkenntnis, eben der Welt als Summe der Ideen - der Vorstellung - aufbrechen könne. Der Mensch, dem das gelingt, erreicht eine höhere Form von Sein. Es ist wesent­lich, daß in der sozialgeschichtlichen Literatur über das Bil­dungs-bürgertum im Kaiserreich die besondere Ausprägung des deut­schen Bildungsbe­griffs seit dem mittelalterlichen My­stiker Eckart über Gotthold Ephraim Lessing bis hin zu Hegel hervorgehoben wird, Bildung wird belastet mit der „Bürde im­manent-eschatologischer Heilserwar­tung“, das heißt, der Ge­bildete hat Teil an einer endzeitlichen Heils- und Erlösungs­wirk­lichkeit. Hegel sieht in Natur und Geschichte die Ent­fal­tung des absoluten Geistes wirken, so daß systematische Bil­dung auch die syste­matische Annäherung des Men­schen an ei­ne ihn durch­dringende Ver­göttlichung wird.

      Das bedeutete für Richard Guhr, daß er für sein asketisches zöli­ba­täres Leben, das im Fasten seine höchste Steigerung erfuhr, in Schopen­hauers Bekämpfung des Willens als einen ge­schlechtlichen und zum Tode führenden Triebes einen Kronzeu­gen hatte. Den anderen fand er in der nur scheinbar gegensätzli­chen Lehre Friedrich Nietzsches. Gemeinsam mit Schopenhau­er hat dieser die Annahme eines zyklischen Kreislaufes, einer ewigen Wiederkehr und der Verflechtung des Menschen in die Welt als einen Leidensprozeß. Im Gegensatz zu Schopenhauer entwickelt er daraus seine Formel von Amor fati - Liebe zum Schicksal - das heißt, der heldenhaften Bejahung der schmerz­haften Erfahrung von Leben - ohne moralische Bewertung. Es ist die Teilhabe am Lebensprozeß, jen­seits von Gut und Böse. Diese oft mißverstandene Formel, die Essenz seiner Schrift „Also sprach Zarathustra“, ist die Proklamation eines Men­schen, der aus dem Willen und dem Geist Schmerz und Lust des Lebens nicht nur erduldet, sondern sich in einem befreienden Lachen zum Schmerz als dem Zentrum des Lebens und als der Triebkraft aller geistigen Werke bekennt.

      Untrennbar von dieser Lebensphilosophie entwickelt Nietz­sche seine Kunstphilosophie: der Künstler erfährt das Leben als Rausch (erlebnis­mäßig) und als Traum (bilderschaffend).

      Die Anleihen für die beiden Prinzipien Lebenserfahrung und Le­bensgestaltung entnimmt er dem griechischen Mythos von Dionysos und Apoll und der griechischen Kunstform der Tragö­die. So wird Nietzsche bei Guhr Symbolfigur für die triumphie­rende Erfahrung des lebenslangen Schmerzes und für seine Ge­staltung zum Kunstwerk.

      Eine dritte Kunstfigur wird Wagner. Als historische Person geht er als Gestalter einer deutschen Oper, mit der die Vorherr­schaft der italie­nischen und französischen gebrochen wird, in das Wilhelminische Zeit­alter ein.

      Die Aufbereitung der Edda, des Nibelungenliedes, des Parsifal­stoffes und die Thematik Weltuntergang in der Götterdämme­rung kommt der Krisenstimmung des ausgehenden 19. Jahr­hunderts entgegen. Nietzsche, zunächst Bewunderer Wagners, ironisiert dann dessen Musik und die Inhalte, zum Beispiel 1888 in dem Text „Der Fall Wagner“. Die Argumente machen deut­lich, warum Wagner für Guhr zentrale Symbol­figur wurde:

      „Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachge­dacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein - dies ist sein Problem. Und wie reich er sein Leitmotiv variiert: Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit Vorlie­be interessante Sünder erlöst (der Fall im Tannhäuser). Oder daß selbst der ewige Jude erlöst wird, seßhaft wird, wenn er sich verheiratet? (der Fall im Fliegenden Holländer). Oder daß alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehen, von keuschen Jünglin­gen erlöst zu werden? (der Fall Isoldens). Oder daß der alte „Gott“, nachdem er sich moralisch in jedem Betracht kompro­mittiert hat, endlich durch einen Freigeist und Immoralisten er­löst wird? (der Fall im Ring)“. Soweit boshaft Nietzsche. Er lie­fert, trotz seiner Entheroisierung Wagners das wichtigste, wenn auch allgemeinste Wort zum Verständnis des Werks von Guhr: ERLÖSUNG

      Er litt, trotz äußeren Erfolgen, am Leben in den Jahren seit 1906, vor Kriegsbeginn hat er in Berlin noch ein Bildhauerate­lier und erhält Großauftrag um Großauftrag-. Modelle für Bron­zefiguren in Kaiser Will­helms Renommierhotel dem Berliner Adlon, für den Kaufhausbau Wert­heim in der Nähe des Alexan­derplatzes, Fassadenreliefs, bronzene Leuch­ter, figurale Aus­schmückungen im Lichthof, Brückenfiguren in Berlin, Figuren für das Rathaus in Barmen usw.

      Seine von ihm ausdrücklich genannte Beteiligung an der Kasse­ler Stadthalle ist leider wegen der zerstörten Akten nicht mehr rekonstruier­bar; höchstwahrscheinlich geht aber die Lyra an der Fassade auf ihn zurück.

      Er gehört zu denen, die an der Außendarstellung des wilhelmini­schen Deutschland mitwirken, gebildet an der römischen Anti­ke, prachtvoll und in geschmackvoller Symbiose von Kunst und Kommerz. Aber er hat – un­sicht­bar, da Stigma.

      Anders als bei anderen, die im harten Konkurrenzkampf nicht schritthalten und deshalb in Krisenstimmung geraten, sitzt bei ihm die Krise tief innen. Allerdings spürt er auch, daß die Zeiten sich ändern und vor al­lem der in Dresden durch Absprachen zwischen Kunstakade­mie und Kunstge­werbeakademie geregelte Auftragsmarkt und vor allem die Kunstszene in Unordnung gerät.

      Es sind die jungen, gegen Kunst und Gesellschaft aufbegehren­den Studenten die Unruhe nach Dresden bringen. 1910 wird Ot­to Dix als Student der Kunstgewerbeakademie Guhrs Schüler im figuralen Zeich­nen und im Modellieren.

      Über Nietzsche scheint es zunächst sogar etwas wie Konsens ge­geben zu haben. Um 1912 entsteht von Dix im Atelier Guhr eine Nietzsche-Büste, die seit 1933 verschollen ist. Da Guhr sich aus­geschwiegen hat, läßt sich kaum sagen, welcher Art der Einfluß auf junge Studenten war. Guhr stand mit der Überbetonung der zeichnerischen Linie und der Präzision in Dresden nicht alles an. Da Guhr in seinen Lehrveranstaltungen keinen Wider­spruch duldete, ist davon auszugehen, daß die emotionslose Präzision der Linie bei Dix auf Guhrs Dozieren über die Bedeutung des Zeichnens und die Bedeutung der alten Meister zurückgeht. Dix spricht später von der Kamellast und dem Drill an der Kunstgewerbe­aka­demie.

      Dix beginnt, die ihm vermittelte Technik so einzusetzen, daß er den ihm ermittelten erhabenen Bildungskanon durch die Wahl anderer Motive demontiert.

      Sicherlich mag das die persönliche Kriesenstimmung Guhrs mitbestimmt haben; sie war aber auch die eines ganzen Standes. Es gibt Hinweise dafür, daß eine größere Anzahl seiner Bilder seit 1912 oder 1913 entstand und bereits 1922 teilweise zu Schreinen von 3- 6 Bildern geordnet war. Die Bildtitel „Erlöser der Welt“ und „der große Weltenbrand“ bezeichnen die Pole, die symptomatisch für die individuelle Seelenlage Richard Guhrs sind, seine Malerei aber gleichzeitig in eine, vor allem von der protestantischen Bildungsschicht aus Theologen, Historikern, Schriftstellern vorgetragenen Weltgerichts - Prophetie einord­nen. Die sozial­ge­schichtliche Forschung weist auf die weite Ver­breitung einer apokalyptischen Prophetie um 1914 hin, als de­ren Vollstrecker sich Kreise der gebildeten Schicht fühlen.

      „Im Zentrum der deutschen Apokalypse“, von 1914 so Klaus Vondung in „Das wilhelminische Bildungsbürgertum“ steht die Deutung des Krieges als Weltgericht, das Gott über Deutschlands Feinde verhängt hat. Die Kriegsgegner des Deut­schen Reiches werden mittels apokalyptischer Symbole als Ver­treter des schlechthin Bösen bezeichnet und mit dem Satan und Antichrist identifiziert.

      Die Deutschen, von diesem Feind seit langem bedrängt, erschei­nen als „Gottes Volk“, das berufen ist, im Auftrag Gottes das Weltgericht zu vollstrecken. Da Deutschland als Werkzeug Gottes kämpft, gilt sein Sieg als ausgemacht. Als Schlußakt ei­nes apokalyptischen Dramas erhält der erwartete Sieg die Qua­lität eines „metastatischen“ Ereignisses, das heißt, eines Ereig­nisses, das gänzliche neue Strukturen hervorbringt und des­halb, nicht nur Deutschland, sondern der ganzen Welt Erlö­sung bringen wird. In diesem Sinne bezeichnet bei Guhr die Ge­richtssymbolik in der Daniel- und Johannesapokalypse nicht das „unmittelbare Eingreifen Gottes in die Geschichte“, son­dern die Vollstreckung des Weltgerichts innerhalb des Ge­schichtsprozesses von den Deutschen selbst, ideal­typisch kon­zentriert auf die Figur Richard Wagners, der die - so bezeich­net von Richard Guhr - die „arische Regeneration“ einleitet. Diese Vorstellung ist ohne den eingangs erwähnten Bildungsbegriff einer ganzen Schicht, des Bildungs­bürgertums, nicht denkbar.

      Bei der Vergöttlichung des Menschen durch Bildung können einzelne hervorragende Persönlichkeiten Werkzeuge der Vorse­hung, Vollstrecker des Weltgerichts werden. Ich muß auf die Nähe zum Führer­kult im Dritten Reich nicht eingehen. Sie ist strukturell bedingt. Die Inhalte wurden dadurch austauschbar.

      Wagner als Sensenmann, als Hüter einer Kindgeburt, als Po­sauner des Jüngsten Gerichts ist Prophet des Weltenbrands wie seines welterneuernden Umschlags. Dazu betrachten Sie bitte den heutigen Mittelteil des früher vierteiligen Zyklus „der große Weltenbrand“, genannt „Geistige Geburt“, Die hinter dem Haupt Wagners aufsteigende durch­scheinende Kugel wird von Guhr als Orplid bezeichnet. Die Bezugnahme auf Mörikes berühmtes Gedicht „Der Gesag Weylas“ erscheint hier als miß­bräuchliche Aktualisierung des Mythos von der welterneuern­den Kindgeburt: „Du bist Orplid mein Land ! / Das Ferne leuch­tet; / Vom Meere dampfet dein besonnter Strand / Den Nebel, so der Götter Wange feuchte Uralte Wasser steigen Verjüngt um Deine Hüften, Kind! / Vor deiner Gottheit neigen / Sich Kö­nige, die deine Wärter sind.“

      Die Zerstörung der alten Welt erhielt als euphorische Erwar­tung die Funktion befreienden Geschehens. Bei Guhr war die euphorische Erwartung ein halluzinatorischer Zustand wäh­rend des Fastens, wobei oder unmittelbar danach er malte. Aus vielen Zeugnissen vor 1914 und danach ist bekannt, daß eine ganze Generation nach dem befreienden Untergang fieberte.

      Guhr drückte das Leidensgefühl und das subjektive Gefühl des Befreitwerdens in der Reihe der Dulder und Büßer aus - Prome­theus, Andromeda, Nietzsche, Wotan, Christus - ihre Erlösung durch die Kind­ge­stalt und durch Wagner.

      Das Bindeglied zwischen Erlösung = Erneuerung und Zerstö­rung als angeblicher Voraussetzung kultureller Erneuerung bildet die Mutterge­stalt, die schrecklich-Schöne. Sie hat bei Guhr im Rückgriff auf die griechische, ägyptische und abend­ländische Kunst die Züge der Sphinx, der Artemis, Medusa, der Elfenwesen und Mariengestalten.

      Diese Mütter sind in den alten Religionen und Mythen stets den Erdkräften, dem Mond, der Nacht - in der Lehre Schopenhau­ers, Nietzsches und Wagners - den nicht gestaltenden, der Ge­schlechtlichkeit und dem Tod verfallenen Elementarkräften zu­geordnet. Das weibliche Prinzip ist zwar Voraussetzung für Ge­stalten, Form, Bild und Kultur, aber nur dienend. Es würde zu weit gehen, den Umformungen nachzugehen, die die Jungfrauen- und Muttergestalt seit dem matriarchalisch orga­nisierten Kulturen und naturreligiösen Mutterkulten bis hin zur abendländisch organisierten Gesellschaft erfuhr. Längst bekannt ist, daß die Literatur und Kunst nicht nur im wilhelmi­nischen Deutschland, sondern in Europa gerade die Thematik „Weib“ auf die Dialektik  „Verführerin – Erlöserin“ zuspitze. Auch hier ist, bis in einzelne bildliche Umsetzungen hinein, Guhr Zeitgenosse.

      Seine Bildsymbole subjektiver Erlösungssehnsucht sind scheinbar durch die alten Kulturen, einschließlich Ägyptens, durch die Bibel und die Offenbarung Johannes sowie durch Kronzeugen abendländi­scher Malerei und Dichtung so legiti­miert, daß sie zeitlose gültige Wahrheiten darzustellen schei­nen.

      Tatsächlich ist dieser Anspruch nicht zu halten. Wenn Sie, ver­ehrte Zuhörer, später die Bilder Richard Guhrs betrachten, so mögen sie das Bild Nr. 10 nicht außer acht lassen. Es wurde in der zerstörten Erstfassung „Magna Io Cornuta“ (die große ge­hörnte Mutter) genannt. Zugrunde liegt der griechische My­thos von Io, der Geliebte des Zeus, die, um sie vor der Eifersucht der Hera zu retten, in eine weiße Kuh verwandelt wird. In dieser Erzählung wird die Verbreitung des Artemis - Mondkultes und seiner Verschmelzung mit den altägyptischen Stierkulten zum Isis - und Osiriskult dichterisch gestaltet, denn Io flieht als wei­ße Kuh bis nach Ägypten und wird erst dort von Zeus erlöst. Zu­gleich gebiert sie einen Sohn. Typisch für Guhrs Malerei ist, daß er die naturreligiösen Artemis - Isis - Kulte mit der ihnen zuge­ordneten Mondsichel so darstellt, daß sich bildmäßige Verbin­dungen zur Offenbarung Johannes und zur Mondsichel - Ma­donna ergeben. In der Zweitfassung ist dieses Bild genannt „Zeichen des Kosmos zeugen die Geburt des Wassermann-Zeit­alters“. Nach der Vorstellung aus Amerika importierter Heils­und Erneuerungslehren, die ein neues Zeitalter, „New Age“ ver­künden, sind wir ins Zeitalter des sanften Wassermanns einge­treten, der das Zeitalter der gewalttätigen Fische abgelöst hat. Diese subkulturellen Heilslehren, deren eines Publikationsor­gan die übrigens von Frau Guhr gelesene Zeitschrift „Esotera“ ist, knüpft an mythischen und völkischen Erneuerungslehren an, die zum Teil bestimmten Gedankengängen im Dritten Reich nahestanden. Dazu gehört die Vorstellung von Krankheit als selbstverschuldeter Ursache und der dadurch gegebenen An­steckung der Gemeinschaft. Was also als neu angeboten wird, gehört in die Krisenstimmung vor und nach dem ersten Welt­krieg. Die Bewegung »New Age«, deren vielleicht bekannteste Veröffentlichung „Die sanfte Verschwörung. Persönliche und gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wasser­mann“ genannt wird, greift auf Vorstellungen zurück, denen zu­folge die Frau der kosmischen Ganzheit näher und deswegen prädestiniert sei, die Umwandlung der Menschen zu einer neuen Menschheits-Gemeinschaft einzuleiten. Durch das Wiederauf­leben dieser und ähnlicher Heilslehren könnten die Bildgestal­tungen Richard Guhrs - trotz des Historismus der Darstellung - über den hier nicht gesprochen werden konnte - eine gewisse Renaissance erleben.

      Das Theater sei keine „moralische Anstalt“. Dieser Ausspruch Lessings läßt sich abwandeln: die Kunst ist keine moralische Anstalt, und so hat man ebenso zu erkennen, daß Richard Guhr irrte, als er den Anspruch erhob, mit seinen Bildern eine von Wagner als idealdeut­schem Repräsentanten ausgehende Welt­erneuerung einzuleiten; doch wäre es nur die Kehrseite jener Moral, die Bilder der Wagner - Ehrung als gefährlich - verfüh­rende Weltanschauung wegzuschließen. In ihnen und durch sie wird ein Zeitalter besichtigt, ein Teil deutscher Sozial­geschich­te mit politischen Folgen. Wo Kunst ist, bleibt aber auch immer ein intellektuell nicht auflösbarer Rest. Der Betrachter, der nicht über mythologische und historische Kenntnisse verfügt, wird sich der düste­ren Bedrängnis, dem Leidensdruck, der von den Bildern ausgeht, nicht entziehen können.

Wagner-Ehrung (ab etwa 1905)

45. Fatum Germaniae (links), Wagner mit Micheangelo, Schpenhauer und da Vinci

45. Fatum Germnniae (rechts), Nietzsche, Dante und die Hagedise, von Symbolen umgeben (Adler von Preussen und Barndenburg, Bär von Berlin oder Anhalt?)

45. Fatum Germaniae (Mitte), Eros/Perseus bekämpft den Giganten

Tryptichon mundis Salvatoris, geöffnet



22. Tharandter Gedanke
 

Vorgang in der sächsischen Schweiz im Geiste Wagners

Mythologische Themen

52. Prometheus, mit Fackel

51. Andromeda

7. Der Feuerhüter

6. Wotan holt sich Rat bei der Walha

28. Irratio / Revolution

 

Das realistische Spätwerk aus Höckendorf bei Dresden nach 1945

44. Blick auf Höckendorf

41. Höckendorf, Waldweg "Edle Krone" im Herbst

38. Höckendorf, Kuhstall Kästner 1947

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